Genuines Sein – mein Authentizitätserlebnis in Brasilien
In 2019 reiste ich zweimal an den gleichen Ort in Brasilien und erlebte Genuines Sein. Ein Erfahrungsbericht. Marc Wethmar MScBA - Oktober 2019
Im Februar und im Juni dieses Jahres hatte ich die Gelegenheit in Brasilien zu sein, anlässlich einer Tagung eines Beraternetzwerkes, in dessen Vorstand ich zu der Zeit war. Ich war vorher 2-mal in Brasilien gereist und ich hatte schon einiges Tolles dort erleben dürfen: Rio de Janeiro, Salvador de Bahia, Pantanal, Foz de Iguazú, all diese bekannten Ferienorte und vieles mehr. Dieses Mal sollte es in einen ganz anderen Teil Brasiliens gehen, dem Nord-Osten, dem Städtchen Gravatá, 2 Stunden von Recife in der Provinz Pernambuco.
Warum schreibe ich diese Geschichte? Weil ich auf beiden Reisen, am gleichem Ort etwas sehr ähnliches, Besonderes erlebt habe, was mich bis heute sehr beschäftigt. Damit dies für andere nachvollziehbar sein kann, muss ich erst den Kontext skizzieren.
Pernambuco ist ungefähr so gross wie Portugal, also eine kleine Provinz im Nordosten Brasiliens. Die wirtschaftliche und soziale Entwicklung ist stark zurückgefallen, knapp 19% war die offizielle Arbeitslosenrate vor 2 Jahren, über 30% bei den Jugendlichen. Die Armuts- und die Kriminalitätsrate gehört zu den höchsten in Brasilien, die Menschen leben dort 4-6 Jahre weniger lang als anderswo in Brasilien. Gravatá ist ein Städtchen mit ca. 80.000 Einwohnern, sehr ärmlich, fast alle Eingänge der sehr einfachen und kleinen Häuser sind vergittert, es gibt kaum asphaltierte Strassen.
Mittendrin, am Rande einer kleinen Favela (“Slum”) hat eine Frau, sie heisst Macione Pessoa, sich in den letzten 10 Jahren stark engagiert und viele Angebote geschaffen für benachteiligte Menschen. Das Epizentrum dieser Initiativen ist ein für diese Initiativen geschaffenes Quartierszentrum mit verschiedensten Angeboten für Kinder, arbeitslose Jugendliche und Erwachsene. Es wird dort viel getrommelt, musiziert und getanzt. Das jährliche Sommerfest „Festa Junina“ ist das wichtigste Ereignis, die Kleider für die Tänze werden selbstgenäht. Es wird gekocht und es werden lokale Erzeugnisse und Kunsthandwerk hergestellt. Etwas was ich vor Ort erfuhr war, dass der Leiter von dem Quartierzentrum ⅔ seines mageren Gehalts abgibt, damit die Kinder die an den Trommelkursen teilnehmen, genug zu essen bekommen.
Macione ist 38, lebt auf einem Bio-Bauernhof in Gravatá. Sie ist in einer sehr armen Familie aufgewachsen und hat beschlossen die Welt besser zu machen. Inspiriert hat sie dabei ein Kurs in 2004 von Silvio Urbano (Silvio ist ein befreundeter Beraterkollege von mir), wo es um ein ganzheitliches Menschen- und Organisationsverständnis, soziale Kompetenzen und vieles mehr ging. Sie gehört mittlerweile zu einer sehr gefragten Person in dem Städtchen, wurde auch schon als Bürgermeisterin nominiert. Macione’s Initiativen sind der Grund, dass die jährliche Tagung dieses Mal in einem so abgelegenen Städtchen stattfand.
Das zum Kontext. Da komme ich also als Berater aus Zürich (extrem hohe Lebensqualität) in dieses kleine, ärmliche Städtchen, wo sogar die Autos -wenn vorhanden- hinter Gittern stehen, und besuche dieses kleine Quartierzentrum. Das 1e mal mit der Vorbereitungsgruppe im Februar, das 2e Mal mit der ganzen Konferenz (65 Teilnehmer aus der ganzen Welt) im Juni.
Beide Male war ich, durch verschiedene Umstände (seelisch-gesundheitlich) nicht in bester Verfassung beim Betreten des Quartierzentrums. Beide Male hatte ich das gleiche Erlebnis: HIER fühle ich mich subito wohl. Hier geht es mir sofort besser. Hier will ich bleiben. Die Migräne war verschwunden, mein Unwohlsein auch.
Was war das jetzt? Darüber habe ich immer wieder seitdem nachgedacht. Ich weiss es jetzt: es war das ungemein herzliche, unbefangene, ehrliche, offene und herrlich lebensfrohe Gemüt dieser Menschen. Sie haben uns ihr Können gezeigt, sie haben uns ihre selbstgemachten Produkte zum Kauf angeboten, sie haben mit uns getanzt, sie haben für uns gekocht, sie haben uns und mich mitgerissen mit ihrer Gebermentalität, ihre Lebenslust. Ich war beide Male sehr berührt von diesen Menschen, aus den einfachsten Lebensumständen kommend.
Wenn ich heute darüber erzähle, so bekomme ich immer wieder Augenwasser. Diese begabten Menschen aus ganz ärmlichen Verhältnissen waren neugierig auf uns und taten dies alles nicht um etwas zu bekommen (Nehmer-Mentalität), sondern taten dies als Ausdruck von Ihrem authentischen Selbst, ihrem genuinen Sein. Ich hörte später das eines der Jungs ganz angetan war, dass jemand von uns nach seinem Namen gefragt hatte, das kennen sie nicht bei Fremden und machte Ihn stolz. Was können wir wohlstandverwöhnte Menschen vieles lernen von diesen Menschen: ihr genuines Sein, ihre „Geber“-Haltung, ihren Mut und Durchhaltewillen in diesen erbärmlichen Lebensumständen, ihr Lachen, ihr Rhythmus-Körpergefühl etc.
Ja, manch einer der LeserInnen wird meine Empfindungen vielleicht als Sozial-Romantik eines Wohlstandsmenschen in einer Armutsregion verstehen. Das mag sein. Mir haben diese 2 identischen Erlebnisse am gleichen Ort gezeigt, wie wichtig mir Authentizität und direkte, spontane und ehrliche Kommunikation sind. Etwas was mir offensichtlich in meiner Welt fehlt. Als Holländer (und Schweizer), seit fast 20 Jahren in Zürich daheim, ist das bei all der Lebensqualität etwas, was mir immer wieder auffällt und mich beschäftigt, das distanzierte, Nicht-zeigen-was-man-Denkt, dass nicht in den offenen und ehrlichen Kontakt treten, die fehlende Spontanität. Glücklicherweise gibt es genügend Ausnahmen, nicht nur bei Ausländern.
Zum Schluss Bilder von den Anlässen aus dem Quartierzentrum, denn Bilder sagen ja bekanntlich auf andere Art was Worte ausdrücken können. Der glückliche lange Blonde mit der Tänzerin bin ich. Und als erstes ein Foto von Macione Pessoa, die beindruckende Sozial-Unternehmerin.